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Straßburg
ENSA
ARSMONDO Indien
Über das Stück
Mit einer aktuellen städtischen Bevölkerung von 377 Millionen Einwohner⋅innen, die bis 2050 ganze 800 Millionen erreichen soll, wird Indien zurzeit das weltweit höchste Städtewachstumspotenzial zugeschrieben, obwohl die offizielle Urbanisierungsrate besonders niedrig ist (2011 lag sie bei 31 %) im Vergleich zu China (52 %) und Brasilien (84 %). Einer der in den Medien am meisten diskutierte Aspekt dieses Wachstums stellen die drei Megastädte Delhi, Mumbai und Kolkata mit ihren jeweils über 16 Millionen Einwohner⋅innen dar. Doch die Verstädterung Indiens geschieht nicht nur in den etwa fünfzig Metropolen mit über einer Millionen Menschen. Um die 30 % der urbanen Bevölkerung lebt in den knapp 500 mittelgroßen Städten und circa 40 % in Kleinstädten mit weniger als 100.000 Einwohner⋅innen.
Die Anfänge der städtischen Zivilisationen in Südasien und Indien gehen auf die Vorgeschichte zurück. Die Städte Harappa und Monhenjo-Dara im Industal wurden 2500 v. Chr. gegründet. Mangels schriftlicher Quellen ist es zwar nicht möglich, die gesamte urbane Geschichte nachzuvollziehen, doch es ist bekannt, dass im 4. Jahrhundert v. Chr. bedeutende städtische Zentren wie Pataliputra (heutiges Patna im Bundesstaat Bihar) entstanden. Im tamilischen Chola-Reich im Süden wurden seit dem 3. Jahrhundert Tempelstädte wie Kanchipuram und Madurai nach einer den Kasten entsprechenden heiligen Geometrie um den Tempel herum gebaut. Muslime gründeten 1193 das Sultanat von Delhi und im Mogulreich (16. bis 18. Jahrhundert) entwickelten sich Festungsstädte, darunter Hyderabad und Agra.
Im 19. Jahrhundert wurden aus den alten britischen Handelskontoren der East India Company (Bombay, Calcutta und Madras) wahre Kolonialstädte, die in eine ‚weiße' und eine ‚einheimische' Stadt geteilt waren und deren Architektur im viktorianischen Stil gehalten wurde. Die Moguln und die Briten, die eine große Liebe zur Natur teilten, hinterließen mit unzähligen Parks in den Stadtzentren ihre Spuren unter anderem in Bengaluru und Neu-Delhi. Auch die Bergstationen wie Darjeeling, Shimla Nainital, Kodaikanal und Ooty stammen aus dem Britischen Reich.
Mit der indischen Unabhängigkeit 1947 führte die politische und territoriale Umstrukturierung der Indischen Union in mehrere Bundesstaaten zu neuen regionalen Metropolen und etwa hundert neuen Städten, darunter Chandigarh, die nach Plänen von Le Corbusier gebaute Hauptstadt der Bundesstaaten Penjab und Haryana. Während der Teilung des indischen Subkontinents flüchteten tausende Hindi aus dem westlichen Pakistan nach Punjab, Haryana und Delhi. Im Rahmen der massiven Industrialisierungspolitik der neuen Regierung entstanden sogenannte ‚Stahlstädte' wie Rourkela, Dhanbad und Durgapur.
Lange herrschte die Vorstellung, dass die ‚traditionelle' indische Stadt einer heiligen Geometrie entsprechend organisiert war und dass die ‚moderne' Stadt ein Import aus Europa war. Und so interessierte sich die Forschung kaum für die urbane Geschichte Indiens, nicht zuletzt aufgrund orientalistischer Standpunkte in der Historiografie. Dem Indien-Experten Christophe Jaffrelot zufolge konnte „die seit den 1990er Jahren aufkommende Stadtforschung in Indien [jedoch] nachweisen, dass die Stadt in der indischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und im Selbstbild Indiens eine wichtige Rolle spielt".
Die zukünftigen urbanen Herausforderungen in Indien sind also nicht nur beträchtlich sondern auch ausschlaggebend. Die Straßburger Architekturhochschule ENSAS und die Opéra national du Rhin laden ein zu einer öffentlichen Tagung mit Fachbeiträgen im Bereich der Architektur und des Städtebaus. Zu diesem Anlass werden unter anderem die Arbeiten zu den Städten Mumbai, Chandigarh und Bhubaneswar präsentiert, die Student⋅innen der ENSAS unter der Leitung der Architektin und Stadtplanerin Emmanuelle Rombach in den vergangenen drei Monaten entworfen haben. Der Geograf Kamala Marius stellt seine Arbeit über die großen ökologischen und urbanistischen Fragen im heutigen Indien vor.